von Angela Mahr
Dieser Artikel erschien am 28. März 2023 im Rubikon, heute manova.news
Welche Möglichkeiten haben wir? Welche haben wir versäumt? Hat der Westen alles Mögliche versucht, um Frieden herzustellen? Das werde ich, den Ukrainekrieg betreffend, immer wieder gefragt. Die kurze Antwort lautet: Nein, der Westen hat nicht alles versucht. Wo könnten wir anknüpfen? Welche Fäden wieder aufgreifen? Ein Rückblick auf bisherige Verhandlungen mit Wladimir Putin während des Kriegs.
Sind Verhandlungen möglich? Die Vorgeschichte des Ukrainekriegs, die NATO-Osterweiterung, den Putsch in der Ukraine 2014, den achtjährigen Bürgerkrieg im Donbass sowie die Minsker Friedensabkommen habe ich in meiner Analyse „Die unerwünschte Souveränität“ beschrieben. Dieser Rückblick hier beleuchtet nun die Zeit seit der völkerrechtswidrigen Invasion Putins in die Ukraine und behandelt die Frage: Sind Verhandlungen möglich? Es gab seit Februar 2022 verschiedene Verhandlungen mit Wladimir Putin, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Was können wir daraus schließen?
Das Getreideabkommen
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die Vereinten Nationen (UN) verkündeten am Samstag, den 18. März 2023 die Verlängerung des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine, das am Tag darauf ausgelaufen wäre. Uneinigkeit herrschte über die Dauer der Verlängerung, zwischen weiteren 60 oder 120 Tagen.
Das Getreideabkommen wurde ursprünglich im Juli 2022 gegenüber der UN in Istanbul unterzeichnet und galt zunächst für 120 Tage. Die Türkei hatte bei der Vermittlung zu dem Abkommen eine Schlüsselrolle gespielt. Das Abkommen war entscheidend, um einer weltweiten Nahrungsmittelkrise zu begegnen. Ukraine und Russland sind wichtige Produzenten von Weizen, Gerste, Sonnenblumenöl und anderen Nahrungsmitteln und beliefern damit Länder in Afrika, im Nahen Osten und in Asien.
„Der Weg zur Ausfuhr von Millionen Tonnen Getreide, das seit Monaten in der Ukraine blockiert ist, ist frei“, berichtete Die Welt im Juli 2022. Unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei unterzeichneten beide Seiten in Istanbul das Abkommen zur Ausfuhr von Getreide. Für Russland hatte Verteidigungsminister Sergej Schoigu das Abkommen unterzeichnet, aus der Ukraine war Infrastrukturminister Olexandr Kubrakow nach Istanbul gereist. Der Transport von Getreide und Lebensmittelvorräten werde dazu beitragen, „die globale Versorgungslücke bei Lebensmitteln zu schließen“, und die weltweiten Nahrungsmittelpreise zu stabilisieren, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in Istanbul und lobte das Abkommen. Es wurde im November 2022 um 120 Tage verlängert. Die Initiative für diese Verhandlung kam von der Türkei, nicht aus dem Westen.
Vor Beginn des Ukrainekriegs war Russland der weltweit größte Exporteur von Düngemitteln. „Parallel zu dem Getreideabkommen wurde ein Abkommen geschlossen, das Russland — trotz Sanktionen — den Export von Dünge- und Lebensmitteln erlaubt“, berichtet das ZDF. Moskau habe wiederholt beklagt, diese Vereinbarung werde nicht umgesetzt.
Moskau sieht sich offenbar durch die westlichen Sanktionen an den eigenen Exporten von Getreide und Dünger gehindert. Diese Sanktionen machten es „russischen Akteuren (…) schwer, europäische Häfen anzulaufen, Zahlungen abzuwickeln und Versicherungen für ihre Schiffe zu bekommen“, so die Tagesschau vom 18. März.
Das Problem ist nicht neu. Im vergangenen Jahr war es zu einer „Verständigung bezüglich russischer Düngemittelladungen“ gekommen, die „infolge westlicher Sanktionen auf Frachtern in den Niederlanden, Estland und Belgien“ feststeckten, wie die österreichische Tageszeitung Kurier im November 2022 berichtete. Sie sollten der russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge nach Afrika geliefert werden. „Laut dem Chef des Düngemittelherstellers Uralchem-Uralkali, Dmitri Konjajew, arbeite der Konzern mit der UNO zusammen, um kostenlose Lieferungen von mehr als 262.000 Tonnen Dünger nach Afrika zu organisieren, die in den EU-Ländern festgesetzt seien.“
Das russische Außenministerium stellte nun am Montag in Moskau zwei Bedingungen für die Fortführung des Getreideabkommens: Die russischen Düngemittelexporte müssten erleichtert und die Lieferungen von landwirtschaftlicher Technik und Ersatzteilen wieder aufgenommen werden.
Sollte das Getreideabkommen platzen, dann werde Russland kostenlos Getreide in afrikanische Länder exportieren, kündigte Wladimir Putin in einer Rede bei der virtuellen Russland-Afrika-Konferenz am Montag an. „Er ergänzte noch: Russland werde sich gemeinsam mit den afrikanischen Staaten, aber auch mit Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika einer neokolonialen Ideologie widersetzen“, berichtet t-online.
Die US-Denkfabrik Institut für Kriegsforschung findet auch in dieser Ansage ein Haar in der Suppe — oder vielmehr das geeignete Framing für die laufende Eskalation seitens des Westens: „Dem US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) zufolge verfolgt Putin mit Äußerungen wie diesen ein klares Ziel: Er wolle unter anderem afrikanische Staaten hinter sich versammeln und dort den Unmut gegenüber dem Westen schüren.“ Dieses Framing liefert t-online schon im Titel des Artikels mit.
Das Atomkraftwerk Saporischschja
Das Kernkraftwerk Saporischschja befindet sich im gleichnamigen Oblast südlich von Donezk. Saporischschja ist das größte Atomkraftwerk in ganz Europa. Das Gelände der Anlage wurde seit Februar 2022 schon mehrfach getroffen. Die Kriegsparteien beschuldigen sich dabei oft gegenseitig.
Im August 2022 verhandelte der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, mit russischen Vertretern über einen Besuch des Kraftwerkes. Grossi traf sich mit den Zuständigen der russischen Behörde Föderale Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom) in Istanbul, um über eine Expertenreise nach Saporischschja zu verhandeln. Die von Russland eingesetzten Behörden im Osten der Ukraine erklärten daraufhin, sie würden für die Sicherheit der internationalen Expertendelegation sorgen.
„Nach intensiven Verhandlungen mit beiden Konfliktparteien“ machte sich die Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) auf den Weg nach Saporischschja. Dieser IAEA-Mission gehörten zu dem Zeitpunkt 14 Expertinnen und Experten an, unter ihnen auch Behördenchef Rafael Grossi selbst. Auch eine Französin und Vertreter Chinas sind dabei. Die Delegationsmitglieder wurden auf Basis ihrer Expertise ausgewählt. Sie repräsentierten die IAEA, nicht ihre Herkunftsländer, berichtet das ZDF im August 2022.
In diesem Fall signalisieren sowohl Russland als auch die Ukraine ihr Engagement, eine nukleare Katastrophe zu vermeiden. Sowohl Kiew als auch Moskau haben gezeigt, dass sie die Auswirkungen des Konflikts eingrenzen wollen. Um dies zu erreichen, sind beide Seiten zu Verhandlungen bereit.
Atomkraftwerke sind dringend auf eine stabile Stromversorgung angewiesen, unter anderem für die notwendige Kühlung des nuklearen Materials. Wird das Kraftwerk durch eine Kriegshandlung vom Netz getrennt, müssen Notstromaggregate aushelfen. Zu einem solchen Ausfall der regulären Stromversorgung ist es im Atomkraftwerk Saporischschja bereits wiederholt gekommen.
„Jedes Mal würfeln wir“, vergleicht IAEA-Chef Rafael Grossi die Situation mit einem verantwortungslosen Glücksspiel. „Und wenn wir das immer wieder tun, dann wird uns eines Tages das Glück verlassen“. Grossi will seine „Bemühungen um eine Sicherheitszone“ rund um das Kraftwerk fortsetzen.
Verhandlungen sind aus meiner Sicht nicht nur möglich, sondern auch der einzige Weg, um das verantwortungslose Spiel mit dem Feuer zu beenden.
Torpedierte Friedensverhandlungen
Im März 2022 waren die Verhandlungen tatsächlich sehr weit, und man hätte den Krieg beenden können. Russische und ukrainische Vertreter trafen sich in Istanbul und setzten ihre Verhandlungen im Folgenden virtuell fort.
Russische Beamte, darunter auch Putin, haben öffentlich erklärt, dass eine Einigung nach den Istanbuler Gesprächen kurz bevorstand. Doch die Verhandlungen scheiterten schließlich nach weiterem Druck des Westens.
Samuel Charap, leitender Politikwissenschaftler bei der RAND Corporation, berichtet im Juni 2022 zu dem Thema in der US-Zeitung Foreign Affairs:
„Bei all der Düsternis könnte man leicht vergessen, dass die Unterhändler bereits echte Fortschritte erzielt haben. Ende März legten ukrainische Diplomaten einen innovativen Rahmen für ein Abkommen vor, das einen Weg aus dem Krieg weisen könnte. Und das Entscheidende ist, dass der Vorschlag, der nach den Gesprächen in Istanbul am 29. März an die Presse durchgesickert war, bereits von beiden Seiten zumindest vorläufig unterstützt wurde. Im Mittelpunkt des Vorschlags steht ein Abkommen: Kiew würde auf seine Ambitionen, der NATO beizutreten, verzichten und im Gegenzug für Sicherheitsgarantien sowohl von seinen westlichen Partnern als auch von Russland dauerhaft neutral bleiben“.
Vielleicht sei die Bedeutung des Istanbuler Vorschlags in vielen westlichen Hauptstädten, in denen Sicherheitsgarantien zu einem Synonym für Bündnisverträge geworden sei, noch nicht richtig erkannt worden.
Diplomatie beobachten
Einem weiteren Artikel in der Foreign Affairs zufolge hätten Kiew und Moskau wohl bereits im April eine vorläufige Vereinbarung zur Beendigung des Krieges getroffen. Dazu berichtet Responsible Statecraft im September 2022 unter dem Titel „Diplomatie beobachten: Hat Boris Johnson geholfen, ein Friedensabkommen in der Ukraine zu verhindern?“
Responsible Statecraft ist das Online-Magazin des Quincy Instituts für verantwortungsvolle Staatspolitik (Quincy Institute for Responsible Statecraft). Als Forschungseinrichtung zeigt das Institut nach eigenen Angaben „die gefährlichen Folgen einer übermäßig militarisierten amerikanischen Außenpolitik auf“ und präsentiert „einen alternativen Ansatz, der die lokale Eigenverantwortung und die Lösung lokaler Probleme fördert“. Damit verbunden ist die Vernetzung von Experten und Akademikern, die sich „einer Vision amerikanischer Außenpolitik verschrieben haben, die auf militärischer Zurückhaltung und nicht auf Vorherrschaft beruht“.
Das praktische und moralische Scheitern der Bemühungen der USA, „das Schicksal anderer Nationen einseitig mit Gewalt zu beeinflussen“, erfordere ein grundlegendes Überdenken der außenpolitischen Annahmen der USA.
Dies gelte auch für die Entstehung einer multipolaren Welt im 21. Jahrhundert, in der die wirtschaftliche Macht gleichmäßiger zwischen den Nationen verteilt sein wird. Der Einfluss des „militärisch-industriellen Komplexes“ jedoch, vor dem Präsident Eisenhower gewarnt hatte, habe dazu geführt, dass die außenpolitische Debatte in Washington absichtlich eingeschränkt werde und die für ein solches Umdenken erforderliche Meinungsvielfalt nicht berücksichtigt werde.
Responsible Statecraft zitiert wie folgt aus der Foreign Affairs:
„Russische und ukrainische Unterhändler schienen sich vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben“, schreiben Fiona Hill und Angela Stent.
„Russland würde sich auf seine Position vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil der Donbass-Region und die gesamte Krim kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten.“
Die Entscheidung, das Abkommen zu vereiteln, „fiel mit Johnsons Besuch in Kiew im April zusammen, bei dem er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj drängte, die Gespräche mit Russland abzubrechen, und zwar aus zwei wesentlichen Gründen: Mit Putin kann man nicht verhandeln, und der Westen ist nicht bereit, den Krieg zu beenden“.
Boris Johnson reiste extra zu dem Zeitpunkt nach Kiew, um Selenskyj unter Druck zu setzen das Abkommen nicht zu unterzeichnen. Auch der Journalist Branko Marcetic (1) verweist auf diesen Zusammenhang. „Es war eine ukrainische prowestliche Zeitung, die über Johnsons Abbruch der Gespräche berichtete“, twitterte er am 30. August 2022. „Dank Hill wissen wir jetzt, dass diese Gespräche tatsächlich Früchte getragen haben. Die westliche Presse tut übrigens weiterhin einfach so, als gäbe es diese Berichterstattung nicht.“
Westliche Kriegstreiber
Boris Johnson war von Juli 2016 bis Juli 2018 britischer Außenminister sowie von Juli 2019 bis zum September 2022 amtierender Premierminister des Vereinigten Königreichs. „Johnson verspricht Kontinuität in der Ukrainepolitik“, nennt die Deutsche Welle sein Vorgehen im Juli 2022. Der scheidende britische Premierminister Boris Johnson habe dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auch über seine eigene Amtszeit hinaus „Unterstützung aus Großbritannien“ zugesagt.
„Die anhaltende Entschlossenheit seines Landes, die Ukraine im aktuellen Krieg zu unterstützen, werde nicht wanken, egal, wer nächster Premier seines Landes werde, betonte Johnson laut einer Sprecherin in einem Telefonat mit Selenskyj.“
So wolle man unter anderem die Schulung ukrainischer Soldaten in Großbritannien weiter ausbauen. In der Ukraine gelte der scheidende britische Regierungschef als beliebt — unter anderem weil Großbritannien zu den größten Waffenlieferanten zählt.
Diese Meldung findet sich nun mit fast identischem Wortlaut in zahlreichen deutschsprachigen Medien oder Ablegern, sei es Die Welt, Der Standard, die Börsen-Zeitung, Yahoo oder Comdirect. Die Tagesschau setzt noch einen drauf und zitiert Johnson wie folgt: „Das ist das Gefühl, wie Tapferkeit uns durch die schwersten Momente führt, um uns am Ende mit dem Sieg zu belohnen.“ Diese „drastischen Worte“ könnten „die Briten aber nachempfinden“ ― denn es ginge „um den Freiheitskampf der Ukraine ― so wie einst der Kampf der Briten gegen Nazi-Deutschland.“
Will die Tagesschau hier Boris Johnson, der NATO und unserer Regierung einen Freibrief für den direkten Weg in den dritten Weltkrieg erteilen?
Nach der Ankunft des britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew ist ein mögliches Abkommen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin unwahrscheinlicher geworden. Das berichtet auch das dreisprachige ukrainische Medium Pravda.com im Mai 2022 über den Besuch Johnsons im April.
Laut Quellen der Ukrainska Pravda, die Selenskyj nahe stehen, habe der britische Premierminister Boris Johnson, der fast ohne Vorwarnung in der Hauptstadt erschien, zwei einfache Botschaften mitgebracht: „Die erste lautet, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist, auf den man Druck ausüben und nicht mit ihm verhandeln sollte. Und die zweite lautet, dass die Ukraine zwar bereit ist, mit Putin einige Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, sie selbst es aber nicht sind“ (Hervorhebung durch die Autorin). Johnson zufolge habe der „kollektive Westen, der noch im Februar vorgeschlagen hatte, Selenskyj solle sich ergeben und fliehen“, nun das Gefühl, dass „Putin nicht so mächtig sei, wie man es sich zuvor vorgestellt hatte, und dass dies eine Chance sei, ihn ‚unter Druck zu setzen‘“.
Drei Tage nach Johnsons Abreise nach Großbritannien ging Putin an die Öffentlichkeit und erklärte, die Gespräche mit der Ukraine seien „in eine Sackgasse geraten“. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte am 25. April 2022, die USA wollten Russland schwächen, damit es keine weitere Invasion durchführen könne. „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann. (…) Wir wollen, dass die internationale Gemeinschaft geeinter ist, insbesondere die NATO.”
In der Ukraine sind Verhandlungen mit Wladimir Putin verboten worden. Das berichtet der Tagesspiegel im Oktober 2022. Selenskyj hatte „ein Dekret gegen Verhandlungen mit Russlands Staatschef“ erlassen. Dass „der Kreml“ darauf „ablehnend“ reagierte, erübrigt sich eigentlich.
Im April 2022 erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, einige NATO-Länder wollten den Krieg in der Ukraine verlängern. „Nach den Gesprächen in Istanbul dachten wir nicht, dass der Krieg so lange dauern würde. (…) Aber nach dem Treffen der NATO-Außenminister hatte man den Eindruck, dass (…) es innerhalb der NATO-Mitgliedsstaaten diejenigen gibt, die wollen, dass der Krieg weitergeht, die den Krieg weitergehen lassen, und Russland wird schwächer. Ihnen ist die Situation in der Ukraine ziemlich egal“, sagte Çavuşoğlu.
Nur fünf Tage nach Çavuşoğlus Äußerungen gab Verteidigungsminister Lloyd Austin zu, dass eines der Ziele der USA bei der Unterstützung der Ukraine darin bestehe, Russland „zu schwächen“.
„Jeder Staatschef hat seine eigene Art“: Naftali Bennett koordiniert Friedensgespräche
Noch vor den Friedensgesprächen im März 2022 in Istanbul, am 5. März, reiste der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett nach Russland, um sich mit Präsident Wladimir Putin zu treffen (2). Bennett erklärt, dass die USA und ihre westlichen Verbündeten seine Bemühungen, zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln, um den Krieg in den ersten Tagen zu beenden, „blockiert“ hätten. Er sagt auch, die USA und ihre westlichen Verbündeten hätten beschlossen, „Putin weiter zu bestrafen“, und nicht zu verhandeln.
Im Folgenden ein Auszug aus dem Interview vom Februar 2023, welches auf seinem YouTube-Kanal veröffentlicht wurde. Darin berichtet Benett von seinen damaligen Vermittlungsbemühungen zwischen Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die er mit den USA, Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich koordinierte.
„Ich bin nur der Vermittler. Aber in dieser Hinsicht wende ich mich an Amerika. Ich mache nicht einfach, was ich will. Alles, was ich tue, ist bis ins kleinste Detail mit den USA, Deutschland und Frankreich abgestimmt.“
„Sie haben es also blockiert?“
„Im Grunde genommen ja. Sie haben es blockiert. Und ich dachte, sie hätten Unrecht. Im Nachhinein ist es noch zu früh, um das zu wissen. Die Vor- und Nachteile: Der Nachteil des Krieges sind die vielen Opfer in der Ukraine und in Russland. Das ist ein sehr harter Schlag für die Ukraine, für das Land … “
Bennet erinnert sich an die unterschiedlichen Reaktionen seitens der westlichen Staats- und Regierungschefs. Letztendlich stellten sie sich gegen seine Bemühungen.
„Ich habe ein Protokoll darüber geschrieben, was wir besprochen haben und was die nächsten Schritte sein werden. Was die Differenzen in den Verhandlungen sind und was jeder zu tun hat. Von dort aus, denke ich, haben wir gemeinsam (…) die Amerikaner und Macron auf den neuesten Stand gebracht.“
„‚Die Amerikaner’? Biden selbst, oder …?“
„Nein, normalerweise war es Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater. Manchmal Biden, manchmal Blinken. Sie sind hier sehr eng zusammen. Und Boris Johnson. Sie wissen ja, jeder Staatschef hat seine eigene Art. Boris war … wir können das Spektrum der Regierungschefs aufteilen, die mehr in Richtung ‚Nein, wir müssen Putin bekämpfen‘ tendieren …“
„Weil wir die bösen Jungs nicht belohnen dürfen?“
„Genau.“
„Und wer sagt, vergesst den Krieg ― alle verlieren!“
„Genau. Boris Johnson vertrat die aggressive Linie. Macron und Scholz waren eher pragmatisch. Und Biden war beides.“
Bennett zufolge stimmten beide Seiten während seiner Vermittlungsbemühungen großen Zugeständnissen zu. Die russische Seite habe die ‚Entnazifizierung‘ als Voraussetzung für einen Waffenstillstand fallen gelassen. Putin habe garantiert, auf die „Ausschaltung von Selenskyj“ zu verzichten (3).
Benett erinnert sich an sein Treffen mit Wladimir Putin in Moskau und berichtet weiter:
„Und ich wusste, dass Selenskyj bedroht war. Er war in einem geheimen Bunker, also habe ich (Wladimir Putin) gefragt: ‚Werden Sie Selenskyj töten?‘ Er sagte: ‚Ich werde Selenskyj nicht töten‘. Dann sagte ich: ‚Ich muss verstehen, dass Sie Ihr Wort geben, dass Sie Selenskyj nicht töten werden.‘ ‚Ich werde Selenskyj nicht töten.‘ (…) Ich rief Selenskyj an und sage, ich käme aus einer Besprechung. ‚Er wird Sie nicht umbringen.‘ Er fragte: ‚Sind Sie sicher?‘ ― ‚Hundertprozentig, er wird Sie nicht töten!‘ Zwei Stunden später ging Selenskyj in sein Büro und filmte sich dort mit seinem Handy: ‚Ich habe keine Angst …‘. Jedenfalls war das ein Zugeständnis. Das andere war, dass er auf die Entwaffnung der Ukraine verzichtete. Auch Selenskyj machte an diesem Samstag ein großes Zugeständnis. Ich glaube, das war der zweite Samstag nach Ausbruch des Krieges. Der Krieg brach an einem Donnerstag aus, am nächsten Samstag war ich in Moskau. Selenskyj verzichtete auf den Beitritt zur NATO. Er sagte: ‚Ich verzichte darauf‘. Es gibt große Schritte auf beiden Seiten. Riesige Zugeständnisse. Der Krieg brach wegen der Forderung nach einem NATO-Beitritt aus. Und Selenskyj sagte: ‚Ich verzichte darauf‘.“
Die Bereitschaft Russlands und der Ukraine, ihre Positionen abzuschwächen, wurde zu der Zeit öffentlich. So berichtete die US-Nachrichtenseite Axios „unter Berufung auf israelische Beamte“ am 8. März 2022, Putins Vorschlag sei für Selenskyj „schwer zu akzeptieren, aber nicht so extrem, wie sie erwartet hätten“. Sie sagten, der Vorschlag beinhalte „keinen Regimewechsel in Kiew und erlaube der Ukraine, ihre Souveränität zu behalten“.
Bennett begründete seine Entscheidung zur Vermittlung damit, „dass es im nationalen Interesse Israels sei, sich in dem Krieg nicht für eine Seite zu entscheiden, und verwies auf die häufigen Luftangriffe Israels in Syrien“. Russland verfüge über S-300-Luftabwehrsysteme in Syrien. Wenn sie „den Knopf drücken, werden israelische Piloten fallen“, so Bennett.
Schlussgedanke
Immer wieder begegnet mir derzeit die pauschale Behauptung, man könne mit Putin nicht verhandeln. Deshalb sei es notwendig, Krieg zu führen und immer weiter zu eskalieren. Eine solche Logik ist menschenverachtend und absurd, denn jeder Krieg erzeugt unermessliches Leid und Waffen eskalieren jeden Krieg.
Leidtragende sind die Menschen, am allermeisten aktuell in der Ukraine. Krieg ist nie eine Lösung. Selbst wenn Verhandlungen völlig aussichtslos erscheinen würden, so müsste man es dennoch versuchen. Nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan haben die USA auch mit den Taliban verhandelt. Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch.
Die gute Nachricht ist: Die Friedensbewegung unserer Zeit ist zunehmend eine interkulturelle und internationale Bewegung. Die Kommunikation ist durch das Internetzeitalter technisch einfacher und immer schneller geworden. Wissenschaftler und Whistleblower aus den USA etwa setzen sich dafür ein, verdeckte Kriegsführung und Terroranschläge aufzudecken. Unabhängige Journalisten wie etwa Seymour Hersh, weltweit bekannt geworden durch seine Berichterstattung zum Vietnamkrieg, veröffentlichen Ergebnisse und Zusammenhänge.
Auch auf den Friedensfestivals begegnen sich die Kulturen: In Friesack spielte 2022 die Ethnic Reggae-Band Anna RF aus Israel, in Magdeburg unterhielt ich mich 2021 mit einem Wissenschaftler aus Ghana nach dessen Vortrag, und auf der „Stopp Ramstein“-Woche in Kaiserslautern sprachen 2019 Aktivisten aus Irland und aus den USA.
Ich selbst lebe in Berlin und unterhalte mich oft mit Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen oder mit Migrationshintergrund, sei es aus der Türkei, dem Libanon oder Pakistan. Dieser Austausch ist immer wertvoll. Ich frage nach den unterschiedlichen Perspektiven auf das Zeitgeschehen in den jeweiligen Medien. Es ist auffällig, dass Menschen, wenn sie mehr als eine Sprache fließend sprechen, über geopolitische Zusammenhänge deutlich umfassender und vollständiger informiert sind als wir durchschnittlich hier in Deutschland. Für mich ist zugleich erschreckend, in welchem Zustand sich unsere konzernabhängige Medienlandschaft befindet.
Frieden ist weder rechts noch links. Die Forderung nach Frieden, nach Verhandlungen statt Waffenlieferungen, ist weder an „‚linke“, noch an „rechte“ Argumentationsführung geknüpft, sondern steht für sich.
Wenn wir das klarstellen, kann auch die immer wieder versuchte Spaltung und Zersplitterung der Friedensbewegung keinen Schaden mehr anrichten. Frieden bedeutet Kommunikation, und das über den eigenen Tellerrand hinaus. Frieden und Wahrheit gehören zusammen. Wer verschiedene Perspektiven zulässt und abgleicht, ermöglicht auch das Auffliegen unserer teilweise seit Jahrzehnten verschleppten Kriegspropaganda und Lügen.
Abschließend und als Inspiration gedacht bleibt mir nur zu sagen: Sprechen Sie miteinander. Besonders dann, wenn der Hintergrund ein unterschiedlicher ist, durchbrechen wir unsere Filterblasen und finden einen Weg in den Frieden.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Branko Marcetic ist Journalist und Autor der Biden-Biografie „Der Mann von gestern: Der Fall gegen Joe Biden“, im Original: „Yesterday’s Man: The Case against Joe Biden“.
(2) Zusätzlich erschienen auf: thegrayzone.com.
(3) Im englischen Untertitel des Originalvideos: „But first he renounced the denazification. I.g. taking out Zelensky“.