Meine Visionen für den Wandel (Oliver Schindler)

Meine Visionen für den Wandel

von Oliver Schindler

Wenn man das Buch von Bilbo Calvez, „Saruj, stell dir vor es gibt kein Geld“ gelesen hat, dann ist es schwierig, sich noch selbst was Schönes für die Zukunft auszudenken. Die Menschen sind frei. Es gibt keinen Staat mehr, der sie überwacht. Jeder hat die Wahl, so zu leben wie er möchte. Alle sind füreinander da und gehen achtsam miteinander um. Bei alledem sind die Menschen natürlich nicht perfekt. Das wäre ja kaum auszuhalten. Sie haben jedoch Umgangsformen gefunden, wie sie achtsam und kreativ ihre zwischenmenschlichen Probleme lösen können. Alle Gefühle die zu einem gehören sind noch da: „Wut, Angst, Freude und Trauer!“ aber die Gier ist fast gänzlich verschwunden. Man hat die Wahl, sich mit Hilfe von künstlicher Intelligenz das Leben zu erleichtern, muss das aber nicht tun. Krieg, Hunger und Kriminalität gibt es quasi nicht mehr. Krankheiten sind viel weniger geworden. Man lebt gesünder. Viel gesünder. Die Menschen können reisen, wohin sie möchten. Allerdings ohne Flugzeuge. Arbeitszwang gibt es nicht. Man darf arbeiten. Aber offensichtlich arbeiten die Menschen gerne. Sie haben Spaß daran ihre Fähigkeiten zu testen und neues auszuprobieren und zu erfinden. Jede Tätigkeit findet jemanden, der bereit ist, sie zu tun. Gemeinschaftlich sorgen alle dafür, dass es sich um menschenwürdige Arbeit handelt. Nichts Ungesundes, nichts Entwürdigendes. Man darf lieben wen und wie viele man will. So etwas wie Eifersucht gibt es zwar noch, jedoch wird sie nicht als Rechtfertigung für Besitzansprüche genommen. Dass kein Mensch irgendjemandem gehört ist klar.

Es gibt Gruppen, aber kaum klassische Kleinfamilien. Natürlich sind diese Art Familien nicht verboten worden. Andere Formen des Zusammenlebens hatten sich besser einfach bewährt. Hier komme ich zu einem Punkt, der mir besonders viel bedeutet. Niemals hatte ich ein intrinsisches Bedürfnis in einer Familie zu leben. Da dies aber eine Art Norm ist, dachte ich immer, mit mir stimmt etwas nicht. Auch klassische Zweierbeziehungen konnte ich nie langfristig aufbauen. „Nicht beziehungsfähig“ war meine Diagnose. Inzwischen sehe ich das so, dass all diese Konstrukte meinem Naturell schlichtweg nicht entsprechen. Ich möchte weder dafür da sein, alle Bedürfnisse einer Frau zu befriedigen, noch möchte ich mich davon abhängig machen, dass eine Frau alle meine Bedürfnisse befriedigt. Das ist unmöglich! Das Leben ist wechselhaft. Dasselbe gilt auch für mich. Das bedeutet nicht, launisch zu sein. Es bedeutet sein Leben einem natürlichen Wandel zu überlassen, anstatt verbindliche Absprachen für eine Zukunft zu treffen, die man nicht einhalten kann. Was weiß ich denn, was ich in zwei Jahren für ein Mensch bin? Wenn ich dann immer noch zu der „Frau meines Lebens“ passen wollte, müsste ich mich gegebenenfalls passend machen. Das wäre Missbrauch an mir selbst.

Jedoch bin ich vor etwas mehr als elf Jahren Vater geworden. Der Versuch eine glückliche Kleinfamilie zu gestalten ist schon nach kurzer Zeit gescheitert. Jetzt wohnt mein Sohn Bruno bei seiner Mutter auf Rügen. Ich besuche ihn regelmäßig. Mal an Wochenenden, mal in den Ferien und manchmal kommt er auch für ein paar Tage nach Berlin.

Er spielt gerne Fußball. Wenn ich ihn motivieren kann gehen wir auch mal zum Strand um zu schwimmen und herum zu toben. Ich bin heilfroh, dass das möglich ist. Denn gäbe es weder das eine noch das andere, würde es ihn nur zu seinen Computerspielen und YouTube Kanälen ziehen. Einfach mal nichts tun und aus einer zeitweiligen inneren Leere etwas entstehen zu lassen ist für ihn quasi nicht mehr möglich. Sobald es langweilig wird, greift er zum Smartphone. Deswegen ist immer dieser Druck da, etwas anzubieten, damit er vor den elektrischen Geräten nicht verödet. Er hat keine Geschwister und auch Besuche bei Freunden müssen umständlich organisiert werden.

Ich bedaure, dass er allein bei seiner Mutter aufwachsen muss. Sie tut ihr Bestes und auch ich versuche meinen Teil beizutragen. Ich wünschte jedoch, Bruno könnte in einer großen liebevollen Gemeinschaft aufwachsen in der es alle sozialen Interaktionen gibt, die er für seine Entwicklung und sein Glück braucht.

Wie könnte das aussehen?

Wir leben in einer Gemeinschaft von 200 Menschen. Ungefähr so wie in einem Indianerdorf, nur eben besser gegen die Kälte geschützt. Unsere Häuser sind der Natur angepasst und umweltfreundlich konstruiert. Ich träumte schon immer von einer großen Hütte in deren Mitte ein Baum durch das Dach wächst. Wir schlafen in Hängematten oder auf Strohmatten. Im Sommer draußen im Freien.

Die Häuser, Hütten und Zelte in unserem Dorf sind verschieden groß. Jeder kann wählen und ausprobieren wo und mit wem er zusammen übernachten möchte. Manche mögen vielleicht noch in der Hütte ihrer Eltern schlafen. Manche im riesigen Kinderzelt mit den anderen Kindern zusammen.

Ich weiß nicht wo mein Sohn übernachten will, aber wenn er morgens aufwacht, freut er sich, schnell raus an die frische Luft zu kommen und mit seinen Freunden was zu unternehmen. Vielleicht hat er aber auch Lust den Erwachsenen bei irgendwelchen Arbeiten zu helfen. Schule im klassischen Sinne gibt es nicht. Die Kinder äußern, was sie gerne lernen möchten und bei wem. Alles ist lernen. Alles ist Forschen. Es gibt kein Arbeitsleben auf das man sich vorbereiten muss, sondern einen fließenden Übergang vom Spielen zum Schaffen und wieder zurück.

Ach ja. Falls mein Junge Nöte hat und Unterstützung braucht, freue ich mich, wenn er damit zu mir oder seiner Mutter kommt. Er kann aber auch jeden anderen fragen.

Das wünsche ich mir auch aus Liebe zu mir selbst. Ich kann zwar jederzeit für ihn da sein, habe aber keinen Druck ALLES für ihn klären zu müssen. Weil ich auf die Gemeinschaft vertraue.

Wir haben Gesprächsgruppen um Streitigkeiten zu lösen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Doch sind wir uns alle bewusst, dass ungeklärte Konflikte das gesamte Gefüge zerrütten können. Deswegen sind alle darauf bedacht sich gegenseitig dabei zu unterstützen Lösungen zu finden. Die können aus dem Verstande, aber auch aus dem Herzen und der Phantasie kommen. Es darf keine Verlierer geben, denn sonst entsteht wieder Spaltung. Auch Stimmen die vereinzelt und leise sind müssen unbedingt angehört werden. Nicht ausgedrückte Gefühle und unterdrückter Frust können der Anfang vom Ende einer Gemeinschaft sein. Doch in meiner Zukunft sind wir uns dessen bewusst und aus diesem Grunde hat Achtsamkeit in Bezug auf die Gruppendynamik eine besondere Prioriät. Wenn eine Opfer – Täter Dynamik entsteht oder sich Sündenböcke, Außenseiter oder Anführer herauskristallisieren, muss gehandelt werden. Gleich am Anfang. Und es wird gehandelt! Die Dinge werden offen angesprochen. Dadurch kommen sie ans Licht. Am Licht verlieren sie ihre dunkle Macht.

Wir haben ein großes Gemeinschaftsgebäude. Den Marktplatz. Dort bereiten wir zusammen die Mahlzeiten her und wir essen auch gemeinsam.

Wenn es warm genug ist verlagern wir diesen Marktplatz nach draußen. So wie bei Asterix und Obelix. In der Mitte brennt ein warmes Feuer. Du möchtest deine Mahlzeit lieber in Ruhe einnehmen? Meditativ? Dann gibt es auch dafür Räume und Gelegenheiten.

Unsere Medizin beziehen wir aus der Natur. Wir wissen alles über Heilkräuter und natürlich gibt es mehr als einen Experten für dieses wichtige Thema. Er mag sich Facharzt oder Medizinmann nennen. Seine Wahl! Ich persönlich stehe auf Kräuterhexen und Schamanen.

Wer mag, kann sich gerne einen Smoking anziehen. Ich aber hätte Lust im Lendenschurz herumzulaufen, meinen Körper zu bemalen und wild um das Lagerfeuer zu tanzen. Zum Rhythmus der Trommeln und der 100 anderen verschiedenen Instrumente die wir uns aus Naturstoffen gebastelt haben.

Wenn das ohne gefährliche Strahlung geht dürfen wir gerne Kommunikationsmittel haben, mit denen wir uns über Tausende von Kilometern Entfernung verständigen können.

Dasselbe gilt für Verkehrsmittel mit denen man schneller vorankommt. Die sind umweltfreundlich und nicht annähernd so voll gestopft wie der RE 3 von Berlin nach Rügen und zurück . Auch große Gewässer und Ozeane können wir auf diese Weise überqueren. Langsames Reisen ist jedoch bei den meisten am beliebtesten. Lange gemeinsame Wanderungen in Gruppen oder auch allein. Überall wo wir hinkommen herrscht liebevolle Aufmerksamkeit. Man gilt nicht im üblichen Sinne als Gast, sondern ist überall zu Hause.

Wenn man irgendwo angekommen ist wo man bleiben möchte, so ist das jederzeit möglich. Wenn Menschen die oft Gemeinschaften wechseln werden genetische Fehlentwicklungen vermieden.

Mir ist der Aspekt mit dem Reisen sehr wichtig. Ich könnte mir vorstellen kontinuierlich in einer Dorfgemeinschaft zu leben um weiterhin für meinen Sohn da sein zu können. Aber ich brauche meine Ausbrüche aus der Routine. Im Moment mag ich nicht woanders als in Berlin wohnen, obwohl ich von einer Dorfgemeinschaft auf dem Lande träume. Warum ist das wohl so? Weil ich halt ein Mensch bin, der sehr vielfältige soziale Interaktionen braucht. Dasselbe gilt für kulturelle Abwechslung. Mal angenommen mein Sohn und seine Mutter würden mitkommen, dann könnte ich mit einer fahrenden Theatertruppe unterwegs sein, die von Dorf zu Dorf reist. Wir machen das nicht für Geld, sondern um der Freude und der transportierten Schaffensenergie wegen. Das ist unsere Art einen Beitrag an der Gemeinschaft zu leisten. Klar helfen wir trotzdem gerne beim Kochen und Ernten wenn zwischen den Proben noch Zeit ist. Auf unseren Touren kommen wir an Stationen vorbei wo für Reisende Nahrungsmittel hinterlegt sind. Jeder nimmt nur das mit was er braucht. Es wachsen überall Obstbäume von denen wir uns bedienen können und aus den meisten Seen kann man inzwischen wieder trinken. Was ist mit Technik und Fortschritt? Nun ja. Das hat Bilbo Calvez so schön beschrieben. Technik kann, muss aber nicht. Und wenn, wird sie mit Vernunft und Verantwortung eingesetzt.

Viele Nuancen dieser Zukunftsvision erfüllen sich schon heute. Es gibt diese Tage in meinem Leben an denen ich die Erfüllung meiner Träume für einige Augenblicke erleben darf. Wenn ich barfuß durch den Wald laufe und Bäume umarme. Wenn ich beim „Tanzen macht frei“ im Treptower Park oder beim Bootshaus an der Wuhlheide unter dem sommerlichen Sternenhimmel im warmen Wind herum springe. Wenn ich einem anderen Menschen in die Augen schaue und dabei ich selbst bleibe. Wir hören uns gegenseitig zu und genießen unsere Ehrlichkeit. Das passiert oft in meinen Selbsthilfegruppen für abstinente Süchtige. Diese Augenblicke der Wahrhaftigkeit! Es geschieht auch wenn ich in Arbeitsgruppen sitze und wir gemeinsam Lösungen finden, ohne dabei jemanden zu benachteiligen. Achtsam und liebevoll. Ich erlebe jeden Tag mindestens drei Augenblicke, die beweisen, dass wir das Potential haben um eine Zukunft zu erschaffen in der meine und deine Träume von Liebe, Freiheit und Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen. Wenn wir darauf unsere Aufmerksamkeit lenken und diese schönen und ehrlichen Augenblicke ausbauen, so werden sie länger andauern und häufiger werden. Es hat schon angefangen. Schau einfach hin und vertraue auf den Zauber der Gegenwart.

Text von Oliver Schindler – Radio Berliner Morgenröte

radio-berliner-morgenroete.de