Die unerwünschte Souveränität – Alle Völker der Erde haben ein Recht auf Selbstbestimmung, so auch das Volk der Ostukraine. Teil 3/3.

Dieser Artikel erschien am 20. Mai 2022 im Rubikon.

Das Referendum in der Ostukraine 2014

„Bei einem Referendum in der Ostukraine hat nach Angaben der Separatisten eine überwältigende Mehrheit für eine Abspaltung gestimmt“, erklärt die Tagesschausprecherin am 12. Mai 2014.

„Heute erklärten die prorussischen Aktivisten die Republiken Donezk und Lugansk für unabhängig. Nächster Schritt könnte der Anschluss an Russland sein.“

Diese Formulierungen waren unpassend. Wladimir Putin, beziehungsweise das russische Parlament und der Föderationsrat, hatte die Republiken erst acht Jahre später überhaupt anerkannt.

„Die Referenden, die von den beiden selbst ernannten Republiken Donezk und Lugansk im Mai 2014 durchgeführt wurden, waren keine Referenden über „Unabhängigkeit“ (независимость) (…), sondern Referenden über ‚Selbstbestimmung‘ oder ‚Autonomie‘ (самостоятельность)“, unterscheidet Jacques Baud. Der Zusatz „prorussisch“ suggeriere, dass Russland eine Konfliktpartei sei, was nicht der Fall war. Der Begriff „russischsprachig“ wäre ehrlicher gewesen. Außerdem seien diese Referenden gegen den Rat von Putin durchgeführt worden.

Diese Republiken wollten sich nicht von der Ukraine abspalten, sondern strebten einen Autonomiestatus an, der ihnen die Verwendung der russischen Sprache als Amtssprache garantiere. Der Status der Republiken sollte gemäß der Abkommen von Minsk 1 (September 2014) und Minsk 2 (Februar 2015) zwischen Kiew und den Vertretern der Republiken ausgehandelt werden, um eine interne Lösung für die Ukraine zu finden.

Baud erinnert daran, „dass sich vor dem 23. und 24. Februar 2022 niemals russische Truppen im Donbass befanden. Außerdem haben OSZE-Beobachter nie auch nur die geringste Spur von russischen Einheiten im Donbass beobachtet. Die von der Washington Post am 3. Dezember 2021 veröffentlichte Karte des US-Geheimdienstes zeigt zum Beispiel keine russischen Truppen im Donbass“.

 

Donezk 2016: Schritte in die Selbstbestimmung

Der Film „Frontstadt Donezk — Die unerwünschte Republik“ von 2016 erzählt bei weitem nicht nur vom Bürgerkrieg in der Ostukraine, sondern vor allem auch von Hoffnung, von Mut und Beharrlichkeit beim Aufbau neuer, unabhängiger Strukturen in der Republik Donezk. „Sie ist in sich der lebendige Versuch eines Gegenentwurfs zur in der Ukraine grassierenden westlichen Neoliberalismus“, so der Filmemacher.

„Für die Leute, die noch nichts über die Donezker Volksrepublik wissen: Die Donezker Volksrepublik ist ein neuer Start mit allen notwendigen Institutionen“, erzählt Alexander Kofman, bis Februar 2016 Außenminister der DVR, zuversichtlich.

„Ein Staat, der noch nicht anerkannt ist. Aber so, wie ich es sehe, kann ein Staat, in dem mehr als 2,5 Millionen Menschen leben, nicht lange nicht anerkannt bleiben.“

 

Das Schulsystem in Donezk

Der Schulbetrieb in Donezk war von 2014 bis 2016 von der Umstellung auf die aktuellen sowie für die zukünftig erhoffen Ereignisse gekennzeichnet. Elena Stognyi, Direktorin am Gymnasium für Informationstechnologie, berichtet:

„Ich bin froh, dass uns am ersten September der Beschuss erspart blieb. Ich wünschte, das ganze Jahr wäre so friedlich. (…) Fast alle unsere Lehrer sind hiergeblieben. Ein paar sind weggefahren, aber jetzt sind sie zurückgekehrt. Wir haben es irgendwie geschafft, unsere Mannschaft zu halten.“

„Ich bin Geschichtslehrerin“, erzählt Vera Lukjanenko vom Donezker Gymnasium Nummer 61.

„Der Unterricht war früher für die Kinder nicht so interessant. Jetzt geht es mehr um Persönlichkeiten und interessante Ereignisse. Kriege oder zum Beispiel bedeutende Bauvorhaben wie den Panamakanal. Der Stoff ist interessanter geworden und viel weniger politisiert. Wir lernen jetzt die eigentliche Geschichte von allen Ländern. Und wir vergleichen zum Beispiel Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Und wie alles zusammen gewirkt hat. Als die Schule durch den Beschuss getroffen wurde, stellen Sie sich vor, bereits um sechs Uhr morgens waren die Kinder hier und haben mitgeholfen. Niemand hat sie gerufen. Sie sind von alleine gekommen.“

Über die sprachliche Situation berichtet Lukjanenko:

„Wir sind hier in einer besonderen, zweisprachigen Region. Wir sollten das besonders beachten, um Probleme zu vermeiden. Auch jetzt, wenn man auf der Straße die ukrainische Sprache hört, wird das als absolut normal empfunden. Und wenn man etwas verbietet, kann man keine Persönlichkeitsentwicklung erreichen. Man kann die Entscheidungsfindung nur fördern, indem man unterschiedliche Seiten, unterschiedliche Kulturen präsentiert.“

Ludmila Glabova, Ukrainischlehrerin am Donezker Gymnasium Nummer 61, spricht über den Umgang mit beiden Sprachen und Kulturen im Unterricht:

„Wir lernen die ukrainische Literatur, die Werke ukrainischer Autoren und unserer Landsleute, die hier gelebt haben, in Donezk, in der Ukraine, und die auf ukrainisch geschrieben haben und heute noch schreiben. Das ist eine schöne Sprache. Die Sprache unserer Vorfahren. Und ich denke, es ist auch ein Privileg, nicht nur die Sprache zu kennen, in der du sprichst, sondern noch eine weitere Sprache.

Übrigens, für die Menschen in anderen Ländern: Ukrainisch und Russisch sind zwei verschiedene Sprachen. Wir haben die Möglichkeit, beide zu lernen, und deswegen lernen wir auch beide. Wissen Sie, die normalen Leute haben keine Konflikte mit den Sprachen. Wenn dieses Thema nicht von oben verschärft worden wäre, gäbe es diese Probleme nicht. Die Kinder würden sich einfach weiter auf Ukrainisch oder auf Russisch unterhalten.“

 

Unabhängige Strukturen in Donezk

An der Sprachfakultät der Universität Donezk fragt Mark Bartalmai die Dozentin für Sprachwissenschaften Larissa Jagupowa:

„Unterrichten Sie noch Dinge, die mit Ukrainisch zu tun haben? Sprachen, oder Kultur, Kunst, unterrichten Sie das weiterhin?“

„Ja, natürlich.“

Bartalmai:

„Warum?“

Larissa Jagupowa antwortet auf Deutsch und mit einem Lächeln:

„Wieso ‚warum‘? Jede Sprache öffnet eine neue Tür in die Welt. Und warum soll man die Sprache aufgeben, die man kennt, die man gesprochen hat. Hier gibt es sehr viele Leute, vor allem natürlich auf dem Lande, die diese Mischsprache sprechen. Natürlich ist es eine russischsprachige Region, und vor allem gibt es hier russisch. Aber bei uns wird das auch unterrichtet, und in den Curricula gibt es auch Ukrainisch.“

Die internationale Diplomatie mied die Republik. Pässe und andere notwendige Dokumente, die im internationalen Rechtsverkehr akzeptiert werden, gab es nur auf ukrainischer Seite. Dorthin zu gelangen, war für die meisten Menschen bereits zu gefährlich, für viele schlicht unmöglich. Man benötigte eine Sondergenehmigung durch die ukrainischen Behörden. Mit der Geburt von Kindern oder dem Ablauf alte Pässe stand man dann vor Problemen. So wurde begonnen, eigene Dokumente zu schaffen ― weder russische, noch ukrainische, sondern Pässe der Donezker Volksrepublik.

Alexander Kofman erklärt dazu:

„Der normale Bürger der Donezker Volksrepublik, der in der Ukraine nicht für einen Terroristen oder Separatisten gehalten wird und dessen Pass verloren ging oder ungültig geworden ist, hat die Möglichkeit, auf das Territorium der Ukraine zu fahren und ihn dort auszutauschen. Was Leute wie uns betrifft, so haben wir natürlich nur einen Weg: über Russland. Wir führen Gespräche mit Russland, dass unsere Dokumente noch vor der Anerkennung der Republik selber anerkannt werden. Wenn unsere Pässe dort anerkannt werden, wird das einige Probleme lösen. Dann werden wir tatsächlich die Pässe der Donezker Volksrepublik herausbringen. Bis dahin wäre das eine sinnlose Geldverschwendung.“

Diese Pässe wurden zur Zeit des Filmdrehs dann auch tatsächlich herausgegeben. „Für uns alle ist das ein besonderer und erfreulicher Tag“, wird bei der Übergabe des ersten Passes gesagt.

„Denn ein Pass der Republik ist eines der Merkmale von Staatlichkeit. Es ist eine Bestätigung, dass die Donezker Volksrepublik als ein Staat besteht, weiter bestehen und sich entwickeln wird. Jeder von uns, der den Pass der Donezker Volksrepublik bekommen wird, erklärt damit seine Unterstützung der jungen Republik.“

Dass diese Pässe keine Reisepässe im eigentlichen Sinne sind, sondern eher eine Art Personalausweis, störe die Menschen noch nicht sonderlich, kommentiert Bartalmai die Situation.

„Zumindest nach Russland können sie damit einreisen. Das ist für viele wenigstens etwas.“

Eduard Jakubowski ist 2016 Vorsitzender des Obersten Gerichts der DVR. Seit Juni 2014 ist er hier. Zunächst war er erster stellvertretender Staatsanwalt. Im September 2014 wurde er durch den Obersten Rat der Donezker Volksrepublik zum Vorsitzenden des Obersten Gerichtes ernannt. „Wir haben natürlich eine Verfassung“, berichtet Jakubowski.

„Entsprechend diesem Grundgesetz teilt sich die Macht in drei Zweige, wie es überall in der Welt ist: Exekutive, Legislative, Judikative. Im Allgemeinen gehen wir von den gleichen Prämissen aus wie zum Beispiel in der Ukraine oder sonst wo auf der Welt in einem Rechtsstaat. Das ist vor allem eine Priorität der internationalen Normen. Das gilt für die universellen als auch für die regionalen Rechtsnormen. Sie stehen über den nationalen Rechtsnormen. Wir nutzen sie selbstverständlich in unserer Tätigkeit und bei der Rechtsprechung.“

Als die Volksrepublik sich zu formieren begann, stellte sich die Frage der Neuschaffung der Justiz. Die Justiz bestehe ja nicht nur aus dem Strafrecht. Die meisten Fälle seien zivilrechtlicher Natur.

„Das Leben geht weiter, ob Krieg ist oder nicht. Diese Frage musste gelöst werden. Deswegen wurde es als notwendig erachtet, in der Donezker Volksrepublik eine eigene Justiz zu schaffen. Das Recht soll gesprochen werden können.“

 

Stimmungsbild in Donezk

Dem Filmemacher zufolge war im Jahr 2016 eine große Mehrheit der Bewohner für die Republiken. Es gab auch Menschen, die die Republik kritisierten. Bartalmai schätzt, etwa 80 Prozent seien für die Republik, 15 Prozent stünden sowohl den Republiken als auch der Ukraine kritisch gegenüber, oft aufgrund von Abneigung gegenüber einzelner Akteure, und 5 Prozent seien wirkliche Kritiker.

Letztere wollten nicht vor der Kamera sprechen. Ein Großteil sei zu Beginn des Krieges nach Kiew geflohen und 2016 zurückgekehrt. Ihnen allen war eins gemeinsam: Sie gehörten zu der früheren sogenannten Oberschicht in Donezk, Geschäftsleute, die mit Handel verdienten und zu Beginn der Krise riesige Gewinne einfuhren, einen Anstieg von 900 Prozent und mehr, bis die Republik diesem „Raubtierkapitalismus“ einen Riegel vorschob.

„Diese Republik darf nicht existieren“, stellen die Filmemacher fest.

„So sehr wäre sie trotz all ihrer Schwächen und Makel ein Symbol für eine andere Option und der Beweis für ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, auch gegen die Interessen des neoliberalen Westens.“

 

„Bloß nicht dran rühren!“ — Sezession ist nicht Gegenstand des Völkerrechts

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Sinne des Völkerrechts beruht Joachim Bentzien zufolge „historisch auf dem naturrechtlichen Prinzip der Volkssouveränität, wie es sich in der Amerikanischen Revolution von 1776 und durch diese und die Gedanken der Aufklärung in der Französischen Revolution von 1789“ ausgebildet und durchgesetzt habe.

„Der naturrechtliche Ursprung des Selbstbestimmungsrechts der Völker bedeutet, dass es sich bei diesem Recht um ein vor- beziehungsweise überstaatliches Recht handelt, das dem Volk, also einer Personengruppe gleicher ethnischer Zugehörigkeit mit gemeinsamer Geschichte, Kultur, Sprache oder auch Religion, zukommt. Darin kommt zum Ausdruck, dass das Selbstbestimmungsrecht im Sinne des Völkerrechts dem Volk das Recht gibt, eine Nation zu bilden beziehungsweise einen eigenen nationalen Staat zu gründen oder auch sich einem anderen Staat in freier Willensentscheidung anzuschließen. Andererseits hat das Selbstbestimmungsrecht inhaltlich die Freiheit des Volkes von Fremdherrschaft zum Gegenstand“ (1).

 

Ursachen für Bürgerkriege

Das leuchtet ein. Warum fällt es uns dann so schwer, gesellschaftlich und global gesehen, es einander zuzugestehen und einzuhalten? Warum löst bereits das demokratische Abstimmen und Einfordern einer Region ihrer Selbstbestimmtheit in unseren kommerziellen Medien wahlweise einen medialen Shitstorm, ein Totschweigen oder auch die geschürte Angst vor dem „größenwahnsinnigen Russen“ auf den Plan, acht Jahre bevor dieser die Republiken überhaupt anerkannt hat?

Der Grund sind die eingangs beschriebenen Machtverhältnisse, die imperiale Politik und das skrupellose Agieren ihrer Vertreter, als sei die Welt ein Schachbrett und sie die Könige, wie auch der Sturz der ukrainischen Regierung im Februar 2014 zeigt. Die Folgen sind dann Krieg und Spaltung, oftmals entlang verschiedener Ethnien, welche zuvor friedlich miteinander leben konnten.

„Putin hatte sich acht Jahre lang geweigert, die Unabhängigkeit der selbsterklärten Republiken Lugansk und Donezk im Donbass anzuerkennen, und stattdessen darauf bestanden, dass Kiew die Minsker Vereinbarungen von 2014 bis 15 umsetzt, die den Provinzen Autonomie gewährt hätten, während sie im ukrainischen Hoheitsgebiet blieben“, erinnert Joe Lauria, ehemaliger UN-Korrespondent verschiedener US-Zeitungen.

„Das bedeutet jedoch noch nicht, dass die Menschen in Lugansk und Donezk bereit sind, ein Referendum über den Anschluss an Russland abzuhalten, oder dass Moskau daran interessiert ist, sie zu einem Teil Russlands zu machen, wie es 2014 auf der Krim geschah.“

Es kann gut sein, dass die Bevölkerung das gar nicht möchte. Diejenigen, welchen ich in der zweistündigen Doku von Mark Bartalmai zugehört habe, möchten vor allem in Frieden leben. Bedauerlich ist, wenn existenzielle Fragen wie Hunger und Krieg ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben in einer Region verunmöglichen. Generell besteht die Gefahr, dass dann irgendwann Entscheidungen getroffen werden, die ohne diese Not nie getroffen worden wären.

 

Die Sezession der Krim 2014

In der Fernsehsendung alpha-Forum wurde Gabriele Krone-Schmalz, Professorin für Fernsehen und Journalistik sowie ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, bereits vor Jahren Folgendes zur Krim gefragt:

„Wie sehen Sie die Situation staatsrechtlich, politisch, und auch für eine zukünftige Kernfrage, diese Krimfrage: Wie sehen Sie das?“

„Der Begriff Annexion, ich nehme an, darauf wollen Sie ja auch hinaus?“, antwortet Krone-Schmalz.

„Mit dem Begriff der Annexion muss man, finde ich, sehr vorsichtig und sehr sorgsam umgehen, weil Annexion der einzige Punkt ist, der in dem ansonsten auf Gewaltverzicht und Gewaltverbot ausgerichteten Völkerrecht die internationale Staatengemeinschaft ermächtigt, zu kriegerischem Einsatz. (…) Das, was sich auf der Krim abgespielt hat, ist eine Sezession, eine Abspaltung, eine Unabhängigkeitserklärung.“

Das westliche Narrativ lautete, Russland habe die Krim annektiert und damit die europäische Sicherheitsarchitektur verletzt, erklärte Gabriele Krone-Schmalz auch in ihrem Vortrag auf der IALANA-Medientagung 2018.

„Das russische Narrativ lautet: Das war keine Annexion, sondern eine Sezession, eine Abspaltung, legitimiert durch ein Referendum, indem sich die überwältigende Mehrheit der Krim-Bevölkerung genau dafür ausgesprochen hat. Und was die europäische Sicherheitsarchitektur betrifft: Die ist bereits Ende der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts durch die NATO passiert, indem die nämlich Serbien bombardiert hat.“

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste man eine Lösung für die auf der Krim stationierte russische Schwarzmeerflotte finden. Seit dem 18. Jahrhundert ist die Hafenstadt Sewastopol an der Südwestspitze der Krim deren Hauptstützpunkt. Die Krim erhielt einen speziellen Status, der es ermöglichte, dass die russische Flotte dortbleiben konnte. „Das kann natürlich dann nicht mehr funktionieren, wenn sich der geopolitische Status, die geopolitische Lage der Ukraine derart dramatisch verändert“, betonte Krone-Schmalz schon 2018 in ihrem Vortrag:

„Und wie naiv oder arrogant muss man eigentlich sein, um diese Zusammenhänge im Vorfeld eines EU-Assoziierungsabkommens mit der Ukraine, das auch militärische Zusammenarbeit vorsieht, das haben die meisten geflissentlich überlesen, um diese Zusammenhänge nicht im Blickfeld zu haben?“

Das EU-Assoziierungsabkommen, welches auch militärische Aspekte enthielt, hatte Wiktor Janukowytsch, der damalige Präsident der Ukraine, abgelehnt. Im November 2013 weigerte er sich, es zu unterzeichnen (2). Nach dem Putsch 2014 erhielt er Asyl in Russland. Der neu an die Macht gekommene Präsident Petro Poroschenko reiste nach Washington und äußerte im September 2014 in einer flammenden Rede: „Ich danke der USA für ihre Solidarität“ (3). Das EU-Assoziierungsabkommen hat Poroschenko im selben Monat unterschrieben.

 

Die russische Militärpräsenz auf der Krim während des Referendums

Während des Referendums verstärkte Russland seine bereits regulär vorhandenen Truppen auf der Krim. „Wenn Ihnen jetzt möglicherweise die Frage auf der Zunge liegt, ja aber was war denn mit der völkerrechtswidrigen Militärpräsenz der Russen auf der Krim“, erklärt Krone-Schmalz auf der IALANA-Medientagung 2018 dazu:

„Die Zwangswirkung der russischen Militärpräsenz bezog sich weder auf die Erklärung der militärischen Unabhängigkeit noch auf das nachfolgende Referendum. Die russische Militärpräsenz sorgte lediglich dafür, dass die ukrainischen Soldaten, die da auch stationiert waren, in ihren Kasernen bleiben mussten und das Referendum nicht verhindern konnten. Auf den Ausgang des Referendums, also inhaltlich, nahm das russische Militär nachweislich keinen Einfluss. Wenn Sie so wollen: Die Adressaten der Gewaltandrohung war nicht die Krimbevölkerung, sondern die ukrainischen Kollegen in den anderen Kasernen.“

Selbst diejenigen, die immer wieder von Annexion sprechen, gäben immerhin zu, dass die Stimmungslage auf der Krim so war und ist, wie es das Referendum gezeigt hat.

Auch Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, schreibt zur russischen Militärpräsenz während des Referendums:

„Adressaten der Gewaltandrohung waren nicht die Bürger oder das Parlament der Krim, sondern die Soldaten der ukrainischen Armee. Was so verhindert wurde, war ein militärisches Eingreifen des Zentralstaats zur Unterbindung der Sezession. Das ist der Grund, warum die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kasernen blockiert und nicht etwa die Abstimmungslokale überwacht haben.“

„Auf der Basis der verfügbaren Daten bin ich der Ansicht, dass die Abspaltung der Krim als Sezession bezeichnet werden muss und dass der Begriff Annexion falsch ist und nur dazu dient, die Spannungen mit Russland zu schüren“, erklärt der Historiker Daniele Ganser und bezieht sich unter anderem auf den deutschen Staatsrechtsprofessor Karl Albrecht Schachtschneider.

„Nach dem Putsch und der ‚gewaltsamen Übernahme der Macht‘ durch aufständische Kräfte in Kiew habe die Krim das Recht gehabt, ein Referendum durchzuführen und sich Russland anzuschließen“ (4).

 

Warum Sezession kein Gegenstand des Völkerrechts ist

Auf die Begriffe Sezession und Referendum geht Krone-Schmalz in ihrem Vortrag im Folgenden weiter ein, um grundlegende Missverständnisse auszuräumen:

„Sezessionskonflikte sind eine Angelegenheit nationalen Rechts und nicht internationalen Rechts. (…) Sezession ist kein Gegenstand des Völkerrechts. Es ist weder ausdrücklich erlaubt noch verboten. Es kommt einfach normativ nicht vor. Und das ist logisch und letztlich auch ganz einfach zu erklären. Der entscheidende Unterschied zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht besteht darin, dass Legislative und Exekutive im Völkerrecht quasi identisch sind. Die Völker geben sich Regeln und die Völker sorgen dafür, dass es eingehalten wird oder eben auch nicht. Es liegt auf der Hand, dass es nicht im Interesse von Staaten ist, quasi ihr eigenes Territorium zur Disposition zu stellen. Deshalb ist Sezession im Völkerrecht nicht ausdrücklich erlaubt: Bloß nicht dran rühren. Es ist allerdings auch nicht ausdrücklich verboten, denn das würde ja dem allgemein anerkannten Prinzip auf Selbstbestimmung massiv widersprechen. Das kommt nämlich im Völkerrecht vor.“

Auf die Krim bezogen kritisiert Krone-Schmalz den damaligen Journalismus:

„Wenn man sagt: Das Völkerrecht gibt der Krim-Bevölkerung nicht das Recht zur Sezession, dann stimmt das. Steht ja nicht drin. Aber der Schluss, das Verhalten ist somit völkerrechtswidrig, der stimmt eben nicht. Verstehen Sie, das zu erklären, dafür sind Journalisten in unserem System da.“

 

Zusammenfassung

Sezessionen sind nicht Gegenstand des Völkerrechts, sondern das Thema der jeweiligen Staaten. Gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker im konkreten Fall einer Sezession kann gegebenenfalls die territoriale Integrität des Staates sprechen.

Wären die Nationalstaaten nicht oder in geringerem Umfang Spielball imperialer Interessen und verdeckter Kriegsführung, genauer gesagt, würden die Bürger der Staaten darauf nicht mehr hereinfallen, dann hätten sie alle weniger Probleme mit ihren Minderheiten.

Manchmal kommt die Aggression gar nicht von der Minderheit, und selten kommt sie von einer Minderheit allein. Sie kommt von außen. Bei der generellen Debatte zum Thema Sezession wird dieser Aspekt gerne ignoriert.

Um eine Bewertung einer Unabhängigkeitserklärung oder einer Sezession vorzunehmen, muss also zum einen der geopolitische größere Zusammenhang betrachtet werden, zum anderen die individuelle Situation der Region, besonders die Lebensumstände der betreffenden Minderheit in ihrem Staat. Im Fall der Ostukraine steht das vorherrschende Meinungsbild hierzulande auf dem Kopf, da die Aggression vom Westen ausging und der imperialen Machtpolitik der USA, genauer gesagt, dem Tiefen Staat entsprang. Die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine wurde dann infolgedessen massiv unterdrückt und ihre Menschenrechte verletzt.

Die Adressaten des Kriegs seitens Putin sind grundsätzlich das Militär und die paramilitärischen Söldnerbataillone in der Ukraine, nicht die Bevölkerung und schon gar nicht die im Osten. Verhindert werden soll, dass das Nachbarland Ukraine als Waffenstützpunkt im Sinne der NATO benutzt beziehungsweise missbraucht wird. Der Versuch des Westens, die Ukraine in die NATO zu ziehen, bedeutet Putins letzte rote Linie. Der Krieg ist nun das Stoppschild, dass er dem Westen nach dem Überschreiten dieser Linie entgegenhält. Leider.

Zum Verständnis stelle man sich an dieser Stelle vor, Russland würde im Sinne eines fiktiven gegenwärtigen „Warschauer Paktes“ oder neuen Ost-Militärbündnisses Mexiko infiltrieren, um Waffen an die Grenze der USA zu bringen. Außerdem würde die fiktive, ins Amt geputschte mexikanische Regierung mit korrupten und brutalen Söldnern Krieg gegen US-Amerikaner führen, welche schon immer im Grenzgebiet von Mexiko lebten und, die Sprache betreffend, prozentual ein Drittel des Landes ausmachen würden.

Wie lange bliebe ein solches Szenario ohne Reaktion seitens der USA? Würden die USA acht Jahre lang diplomatisch bleiben und durchhalten? Wie würden sie reagieren, und wie würden wir die Reaktion dann bewerten? Wie würden wir in einem solchen Szenario das Völkerrecht anwenden? Wie schnell wären wir bei „Selbstverteidigung“? Propaganda, Lügen und Kriegsverbrechen gibt es dann leider in jedem Krieg, und zwar auf beiden Seiten.

In Deutschland sollten beziehungsweise müssen wir unsere Mitverantwortung als NATO-Mitgliedstaat am Zeitgeschehen anerkennen und der ursächlichen Gewalt unsererseits ein Ende setzen, indem wir keine weiteren Waffen in die Ukraine liefern und aus der NATO, welche in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Angriffsbündnis geworden ist, austreten. Aus dieser ehrlichen und zu Ende gedachten Position heraus können wir den russischen Angriff dann auch öffentlich kritisieren und verurteilen, ohne dabei selbst einer scheinheiligen Propaganda aufzusitzen, weil unser eigener Fokus erst dann auf Frieden gerichtet ist.

 

Schlussgedanke

„Natürlich können wir den russischen Angriff bedauern und verurteilen. Aber WIR, das heißt: die Vereinigten Staaten, Frankreich und die Europäische Union an der Spitze, haben die Bedingungen für den Ausbruch eines Konflikts geschaffen“, fasst Jaques Baud treffend zusammen.

„Wir zeigen Mitgefühl für das ukrainische Volk und die zwei Millionen Flüchtlinge. Das ist gut so. Aber wenn wir auch nur ein Minimum an Mitgefühl für die gleiche Anzahl von Flüchtlingen aus der ukrainischen Bevölkerung des Donbass gehabt hätten, die von ihrer eigenen Regierung massakriert wurden und acht Jahre lang in Russland Zuflucht gesucht haben, wäre dies alles wahrscheinlich nicht passiert.“

Ein Frieden, basierend auf Angst und Unfreiheit, durch imperiale Machtpolitik und Gewalt erzeugt, ist niemals nachhaltig. Frieden ohne Freiheit ist nicht möglich. Nur ein Frieden, dem die Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zugrunde liegen, ist ein nachhaltiger, ein wahrer Frieden.

Glauben wir an ein Miteinander auf Augenhöhe oder glauben wir an Macht, Unterdrückung und letztendlich mafiöse Strukturen? Glauben wir, das Miteinander aller Ethnien mit Gewalt kontrollieren zu müssen? Glauben wir, dass es Gewalt und Tod braucht, damit „Ordnung in der Welt“ herrscht? Glauben wir daran, dass ein bis an die Zähne bewaffnetes Imperium, inklusive vieler mehr oder weniger unfreiwillig und auf korruptem Wege verbündeter Vasallen, die beste und sicherste Lösung für einen dauerhaften Frieden bedeutet? Verwechseln wir Gewaltherrschaft mit Frieden?

Je tiefer ich mit meinen Mitmenschen in die Thematik Frieden eintauche, desto deutlicher spüre ich, dass es letztlich ein Weltbild, eine Gesinnung, ein Zustand des Bewusstseins ist, der die Gewalt imperialer Politik verteidigt, oder eben durchschaut, und in aller Ehrlichkeit und politischer Selbstkritik ablehnt, um für ein friedliches Miteinander auf Augenhöhe alle Länder einzutreten, und damit für einen nachhaltigen und echten Frieden.


 

Quellen und Anmerkungen:

(1) Bentzien, Joachim: Die völkerrechtlichen Schranken der nationalen Souveränität im 21. Jahrhundert, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2007, Seite 45.
(2) Ganser, Daniele: Illegale Kriege, Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Orell Füssli Verlag 2018, Seite 257.
(3) Ebenda, Seite 258.
(4) Ebenda, Seite 267.